Die jüngsten Wahlen zur südkoreanischen Nationalversammlung spiegelten einmal mehr die politischen Paradoxien auf der Halbinsel. Präsident Roh Moo-Hyun kann aufatmen und endlich regieren, nachdem er seit seinem Amtsantritt im Februar 2003 von den im Parlament dominanten Konservativen am Nasenring durch die Manege geführt wurde. Aufatmen können auch jene zivilgesellschaftlichen Kräfte, die den von den Rechten inszenierten „parlamentarischen Coup d´Etat“ scharf attackierten, wodurch Roh am 12. März in einer turbulenten Parlamentsabstimmung seines Amtes enthoben wurde. Frohlocken kann mit der Uri (Unsere)-Partei ein politisches Konstrukt, dem nur gut ein halbes Jahr nach seiner Gründung ein überwältigender Stehgreif-Sieg glückte. Abgewatscht wurde die Allianz aus Rechten und Reaktionären, die allen Ernstes geglaubt hatte, Roh aus dem Amt jagen und ungeniert ihre Arroganz der Macht zelebrieren zu können.
Die von Park Geun-Hye, der Tochter des früheren Militärdiktators Park Chung-Hee, geführte Große Nationalpartei (GNP) ist nach den Wahlen nur noch ein Schatten ihrer selbst – Gleiches gilt für die Demokratische Millenniumspartei (MDP), die statt 61 jetzt gerade noch über neun Sitze in der Nationalversammlung verfügt. Insofern erlebt Südkorea in der Tat eine politische Wende, denn nach vier Jahrzehnten verfügen die liberalen Kräfte im Parlament wieder über eine Mehrheit. Eine Entwicklung, die zweifellos auch dem innerkoreanischen Dialog zugute kommen dürfte. Roh kann jetzt, ohne auf die Große Nationalpartei und ihren Kurs der Unversöhnlichkeit gegen den Norden übersteigerte Rücksichten nehmen zu müssen, seine Politik des Ausgleichs mit Pjöngjang ungehindert fortsetzen. In diesem Geiste schickte Seoul auch unverzüglich Hilfsgüter und Medikamente in das durch ein Zugunglück weitgehend zerstörte Ryongchon im nordkoreanisch-chinesischen Grenzgebiet.
Roh gilt zudem als Förderer des bislang größten Nord-Süd-Wirtschaftsprojektes – den Kaesong-Industriekomplex -, der im Süden Nordkoreas durch den Einsatz südkoreanischer Elektrizität und nordkoreanischer Arbeitskräfte entsteht. Eine Politik des Wandels durch Annäherung, während die Konservativen über die Absorption des Nordens schwadronieren und das Regime in Pjöngjang am liebsten gestürzt sähen. Abzuwarten bleibt allerdings, ob Roh tatsächlich den unter seiner Gefolgschaft höchst umstrittenen Plan umsetzt, bis Juni knapp 3.700 südkoreanische Militärs in den Irak zu entsenden. Mit der Eskalation der Gewalt dort wächst in der südkoreanischen Bevölkerung die Ablehnung, mit eigenen Truppen zu intervenieren. Roh wäre gut beraten, dem Votum der Mehrheit zu folgen. Und die ist strikt gegen einen Kurs der Konfrontation – in der Außenpolitik wie auch im Inneren.
Kommentar von Rainer Werning: Sieg aus der Defensive Südkoreas Präsident schreibt den Norden nicht ab, Freitag. Ost-West-Wochenzeitung 19, 30.04.2004