Im Griff der nationalen Sicherheit
Rainer Werning, Seoul
Seit Anfang Dezember steht der deutsch-koreanische Hochschullehrer Song Du-Yul in Seoul vor Gericht. Ihm wird vorgeworfen, was mittlerweile längst üblich ist.
Guchiso ist ein verfluchter Ort. Wehe dem, der dort Verwandte oder Freunde hat. Guchiso ist das Untersuchungsgefängnis im Süden Seouls, in dessen Ballungsraum etwa ein Viertel der gesamten Bevölkerung des Landes wohnt. Am Eingangstor dieses mausgrauen Komplexes trillern Wachtposten in schrillem Stakkato. Passkontrolle, Registrierung in der Gefängnislobby, Warten, Kaffeetrinken und nochmals Warten. Dann ein Signal, die Uhr zeigt Punkt zehn. Genau zwanzig Minuten bleiben uns in einem winzigen Raum. In ausgebleichter hellblauer Gefängnisuniform sitzt mir ein langjähriger Kollege und Freund gegenüber. Auf die Uniform, in Brusthöhe, ist ein grauer Stofffetzen aufgenäht, der den Häftling als Nummer 65 ausweist. Uns trennen zwei Panzerscheiben, in die Löcher gebohrt wurden.
Der Häftling jenseits der Scheiben ist der 59-jährige Song Du-Yul, von Haus aus Sozialphilosoph und Soziologe. Das sind Wissenschaftsdisziplinen, die im langjährig von Militärdiktatoren geführten Südkorea als suspekt, wenn nicht gar als subversiv galten - erst recht, wenn im Rahmen dieser Disziplinen zu und in Nordkorea geforscht wurde. Seit dem Ende des Koreakrieges (1953) befinden sich beide Länder de jure noch immer im Kriegszustand. Das damals mühsam ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen wurde bisher nicht in einen Friedensvertrag umgewandelt. Song Du-Yul, er ist seit 1993 deutscher Staatsbürger, hat sich wie kein anderer Exilkoreaner in Europa vehement für den Nord-Süd-Dialog eingesetzt und die Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) über zwanzig Mal zu Forschungszwecken besucht. Daraus drehen ihm heute die nie verstummten kalten Krieger im Süden einen Strick. Sie werfen Song vor, Spionage für den Norden betrieben, dessen Regime verherrlicht und Südkoreas Ansehen in der Welt herabgesetzt zu haben. Was macht diesen Mann in den Augen der Herrschenden so gefährlich?
Forschungsobjekt Nordkorea
1944 in Tokio als Sohn eines Physikprofessors geboren und auf der (heute süd-)koreanischen Insel Cheju beheimatet, schloss Song Du-Yul in den sechziger Jahren sein Philosophiestudium an der renommierten Seoul National University ab. Da die Militärs regierten, an freies Forschen und Lehren also nicht zu denken war, zog er nach Deutschland, wo er in Heidelberg und Frankfurt Philosophie, Soziologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte studierte und 1972 bei Jürgen Habermas promovierte. Danach habilitierte er in Münster, wo er sich bis letzten Herbst als Professor mit Sozialphilosophie, soziologischen Theorien, Entwicklungs- und Kultursoziologie beschäftigt hat. In Südkorea erschienen von ihm bislang zehn Monografien, in denen er schwerpunktmässig Fragen der Wiedervereinigung Koreas und aktuelle Entwicklungen in der Nordkorea-Forschung behandelte.
Methodisch verfolgt Song einen immanent-kritischen Ansatz. "Dieser geht davon aus, dass die nordkoreanische Gesellschaft auf der Basis ihrer eigenen Ziele untersucht und kritisiert werden muss", sagt er. Der Ansatz müsse zudem "eingebettet sein in vergleichende Studien zu den noch vorhandenen oder bereits verschwundenen sozialistischen Ländern". In zahlreichen Untersuchungen zu Nordkorea, die auf der Totalitarismus-Theorie aufbauen, seien Fehler begangen worden, sagt Song. "Sie projizieren die Zukunft der nordkoreanischen Gesellschaft auf der Grundlage des Entwicklungsweges der untergegangenen sozialistischen Gesellschaften in Osteuropa, die demnach entweder durch eine friedliche Transformation wie in Ostdeutschland oder durch einen gewaltsamen Umsturz wie in Rumänien enden könnte."
Empfang am Flughafen
Da Wissenschaft auch politisch intervenieren soll, engagierte sich Song für Symposien, an denen sich anerkannte Wissenschaftler aus beiden Teilen Koreas trafen - zum ersten Mal 1995 in Beijing und zuletzt (zum sechsten Mal) Ende März 2003 in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang. Das wird ihm heute als pronordkoreanische Tätigkeit vorgeworfen. Nach Südkorea konnte Song nicht zurückkehren - so sehr er dies auch wollte. Mehrfach sass er auf bereits gepackten Koffern, als das Telefon klingelte und er aus Seoul gewarnt wurde, die Geheimdienste würden ihn "in Gewahrsam" nehmen.
Im Sommer 2003 jedoch schien die Zeit reif. Die Situation sei besser denn je, und der Nationale Sicherheitsdienst (NIS) würde ihm allenfalls "ein paar Fragen stellen", versicherten Freunde. Rückblickend war das eine fatale Fehleinschätzung, denn kaum waren Song, seine Frau und ihre beiden in Deutschland geborenen Söhne am 22. September als offiziell geladene Gäste der staatlichen Korea Democracy Foundation auf dem Seouler Flughafen Incheon angekommen, stellte ihn der Geheimdienst NIS unter Arrest. Song wurde tagelang verhört und in Handschellen vorgeführt, seine Oberarme waren mit Seilen gefesselt. Das Justizministerium begründete diese Massnahmen mit dem Argument, man habe verhindern müssen, "dass sich der Angeklagte selbst Verletzungen zufügt".
Song, so der Vorwurf, sei unter anderem 1973 der nordkoreanischen Partei der Arbeit beigetreten, 1991 in deren Politbüro aufgenommen und in der Parteihierarchie unter dem Namen Kim Chol-Su auf Rang 23 geführt worden. Als Anhänger des 1994 verstorbenen Staats- und Parteichefs Kim Il-Sung habe Song Nordkorea mehrfach bereist und Gelder aus der Volksrepublik erhalten. Wissenschaftlich und publizistisch habe er Position für Nordkorea bezogen und dem Ansehen der Republik Korea (Südkorea) schwer geschadet - allesamt Verstösse gegen das aus dem Jahre 1948 datierende Nationale Sicherheitsgesetz NGS (s. unten).
Diese "Erkenntnisse" übermittelte der NIS dem Ausschuss für nachrichtendienstliche Tätigkeiten in der Nationalversammlung, wo vor allem Vertreter der grössten Oppositionspartei, der Grossen Nationalpartei, die Anschuldigungen begierig aufschnappten. Die Konservativen instrumentalisierten die "Affäre" aus recht durchsichtigen Gründen. Erstens haben sie ihre Niederlage bei der Präsidentschaftswahl im Dezember 2002 bis heute nicht verkraftet und sinnen auf Revanche. Zweitens bekämpfen sie Präsident Roh Moo-Hyun, weil dieser die "Sonnenscheinpolitik" seines Vorgängers fortsetzt und nicht hart genug gegen Pjöngjang vorgeht. Drittens wollen sie mit der Forderung nach einem stärkeren Sicherheitsstaat (unter anderem im Einklang mit dem US-"Antiterror"-Kurs gegen Nordkorea) ihre Mehrheit in der Nationalversammlung bei den Wahlen im April ausbauen. Und viertens soll mit Song Du-Yul eine Symbolfigur des anderen Korea demontiert, legitimer Widerstand gegen die früheren Militärdiktaturen im Nachhinein diskreditiert und generell jede Kritik am herrschenden System unterbunden werden.
30 000 Seiten Akten
Der "Fall Song" besteht mithin aus einer Mixtur von kaltem Krieg und heissem innenpolitischem Konflikt, versetzt mit einer guten Portion Absurdität. Denn seit langem schon dürfen sich Politikerinnen, Firmenbosse, Sportlerinnen und Touristen aus Nord und Süd - wenn auch staatlich reglementiert - treffen. Interviews mit dem "Feind" im Norden können im Süden problemlos publiziert werden. Alles dies verbietet das Nationale Sicherheitsgesetz - eigentlich. Assistiert werden die kalten KriegerInnen von Medien, für die Song wahlweise ein "Idiot", ein "Bastard", ein "Vaterlandsverräter", ein "bezahlter Spion Nordkoreas" oder ein "pronordkoreanischer Lügenprofessor" ist. Es dauerte nicht lang, bis die Familie Song Morddrohungen erhielt.
In ihrem Abschlussbericht empfahlen die NIS-Ermittler der Staatsanwaltschaft, gegen Song Anklage zu erheben. Diese versprach daraufhin dem Angeklagten die Freilassung, wenn er sich "reuig" zeige und eine entsprechende "Bekehrungsschrift" unterzeichne. Darauf liess sich der Angeklagte nicht ein. Am 19. November hatte die Staatsanwaltschaft ihre Anklageschrift verfasst, liess die 30 000 Seiten umfassenden Akten, auf die sich die Anklage stützt, aber erst einmal unter Verschluss. Die Verteidigung konnte bis zum Prozessbeginn Anfang Dezember die angeblichen Beweise nicht einsehen. Immerhin entschied zwischenzeitlich der Oberste Gerichtshof, dass dem Beschuldigten Rechtsbeistand zu gewähren sei, was Song bis Mitte November kategorisch verweigert worden war.
In der 82-seitigen Anklageschrift werden dem Wissenschaftler vorgeworfen: Eintritt in eine "staatsfeindliche Organisation", "Übernahme einer führenden Funktion in einem Territorium, das unter der Herrschaft einer "staatsfeindlichen Organisation" steht" und Kontakt zu beziehungsweise Kommunikation mit einer "staatsfeindlichen Organisation". Wörtlich heisst es auf Seite 1 der Anklageschrift: "Obwohl der Angeklagte weiss, dass es sich bei Nordkorea um eine "staatsfeindliche Organisation" handelt, die, sich als "Regierung" ausgebend, zum Zwecke des Sturzes des Staates (gemeint ist Südkorea, d. Verf.) illegal organisiert wurde, (...) machte er sich strafbar."
Der Teufel am Werk
Bis heute, nach sieben Verhandlungstagen, hat die Staatsanwaltschaft keinen dieser Anklagepunkte belegen können. Was Songs vermeintlichen nordkoreanischen Politbürokandidatenstatus betrifft, stützt sich die Staatsanwaltschaft einzig auf die Behauptung des vor Jahren aus Nordkorea übergelaufenen einstigen ideologischen Mentors von Kim Jong-Il, Hwang Jang-Yop. Mit dessen Glaubwürdigkeit steht es allerdings nicht zum Besten. So geriet Hwangs erste Reise in die USA, wo er als "Kronzeuge" gegen Nordkorea auftrat, zum Flop; seine Aussage hinterliess selbst bei den "Falken" des Pentagons einen faden Nachgeschmack.
Auch die Konferenzen von süd- und nordkoreanischen WissenschaftlerInnen zum Thema Wiedervereinigung bieten der Staatsanwaltschaft kaum Handhabe. Immerhin wurden all diese Treffen von südkoreanischen Firmen und Zeitungen finanziell unterstützt. Song agierte dabei als Vermittler und kann als deutscher Staatsbürger reisen, wohin er will - Reisen nach Nordkorea sind nicht justiziabel.
Geradezu grotesk ist der Vorwurf, Song habe in dem vor den Olympischen Sommerspielen 1988 im Rowohlt Verlag veröffentlichten Buch "Südkorea: Kein Land für friedliche Spiele" Propaganda für den Norden betrieben und "gegen die Veranstaltung der Olympischen Spiele in Korea" opponiert (Song war nur einer von vier Verfassern, zu denen auch der Autor dieses Artikels gehörte). Dabei hätte der Titel des jetzt, nach sechzehn Jahren, inkriminierten Buches treffender kaum sein können: Demokratische Verhältnisse waren damals wirklich nicht gegeben. Dafür lieferten die Übersetzer der Staatsanwaltschaft ganze Arbeit. "Die Bauernschaft bewegte sich in einem Teufelskreis von Armut und Unterdrückung", heisst es in einer Passage des Buches. In der Anklageschrift wurde daraus: "Der Teufel legte die Bauern in Fesseln." Dem Angeklagten wird ausserdem die Beteiligung bei der Gründung zahlreicher Auslandsorganisationen von KoreanerInnen vorgehalten, die allesamt nordkoreafreundlich gewesen seien. Tatsächlich ging es diesen Organisationen um die Wahrung der Menschenrechte in Südkorea, wo die Regierenden mit Wissen und Duldung der USA im Mai 1980 einen Volksaufstand in der südwestlichen Stadt Kwangju mit Panzern niederwalzten.
"In der Nacht", sagt Song Du-Yul, "sind alle Blumen schwarz. Erst bei Licht besehen werden sie farbig. Farben sind Kräfte. Kräfte wirken mit- und gegeneinander. Auch die kulturelle Vielfalt kann ihre Energien entfalten, wenn sie im Lichte steht. Wenn sich
die einzelnen Kulturenergien abstossen und durch Ähnlichkeiten auch anziehen können, entstehen gerade dadurch ungeahnte neue Schattierungen und vielfältige Zwischentöne." Aber wer will das im geteilten Korea schon hören?
Weitere Informationen: www.freesong.de
Das Mahlwerk der kalten Krieger
1948, knapp vier Monate nach der Staatsgründung, erliess die südkoreanische Regierung das Nationale Sicherheitsgesetz (NSG). Seither wurde es mehrfach modifiziert, aber nicht aufgehoben. Tausenden südkoreanischen DissidentInnen wurde auf Grundlage dieses Gesetzes der Prozess gemacht; die meisten verschwanden für Jahre hinter Gittern (und konnten von Glück reden, wenn sie während der Haftzeit nicht gefoltert wurden). Das NSG überdauerte Militärdiktatoren ebenso wie die Präsidentschaft des einstigen Staatsfeindes Nummer 1 - des Friedensnobelpreisträgers Kim Dae-Jung.
Das NSG knüpfte nahtlos an ein Gesetz an, mit dem die frühere Kolonialmacht Japan zwischen 1910 und 1945 die "Aufrechterhaltung von öffentlicher Ordnung und Sicherheit" erzwungen hatte. Es ahndet "unautorisierte" Beziehungen zu und Besuche in Nordkorea, das in diesem Gesetz durchgängig als "staatsfeindliche Organisation" charakterisiert wird.
Bislang blieben alle internationalen Proteste und auch Interventionen vonseiten der Uno und der EU ohne greifbares Ergebnis - ein Armutszeugnis auch für die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Südkorea seit knapp einem Jahrzehnt angehört. Die Tentakeln des allmächtigen Staatssicherheitsapparates (NIS) umklammern noch immer die südkoreanische Gesellschaft.
Den innersten Kern des NIS beherrschen strategisch positionierte Hardliner, die auf Dauerkonfrontation mit Nordkorea setzen und denen das Bündnis mit der "Schutzmacht" USA heilig ist. Bis heute sind im südlichen Teil der koreanischen Halbinsel über 37 000 US-SoldatInnen stationiert.
WOZ-Mitarbeiter Rainer Werning ist Vorstandsvorsitzender des deutschen Korea Verbandes e. V. im Asienhaus Essen. Als Sonderbeauftragter des Massnahmenkomitees in Europa für die Freilassung von Professor Song Du-Yul und zur Abschaffung des Nationalen Sicherheitsgesetzes reiste er in den letzten Wochen mehrfach nach Seoul, um dort auch als Zeuge der Verteidigung des Angeklagten auszusagen.